Holy! Erstmal möchte ich noch ein dickes „Danke!“ an euch raushauen. Dass dieses kleine Blog Baby hier direkt so herzlich aufgenommen wird und es bei einigen schon in der Favoritenliste ist, ist sowas von surreal. Das wollte ich nochmal loswerden, bevor wir zu einem sehr ernsten und für viele nicht greifbaren Thema kommen.
But first; Trigger Warning. Solltest du dich momentan nicht stabil fühlen, selbst in einer depressiven Phase stecken oder mit Ängsten zu tun haben, dann habe ich vollstes Verständnis dafür, dass dieser Beitrag vielleicht nicht der richtige für dich ist. Vielleicht oder ganz bestimmt, ist es dann der nächste wieder. I heart you!
Ich glaube, nein, ich bin mir sicher, dass ich schon lange vor meiner Diagnose der MS, mit Depressionen und gelegentlichen Ängsten zu tun hatte. Vor allem aber mit Wut. Wut aus nicht greifbaren Gründen. Ich war wütend. Auf mich, die Welt, meine Freunde und sogar teilweise auf unseren Hund. Aber woher kam sie und was löste sie aus?
Zum Einen war mir nie bewusst, dass ich wohl negativer und trauriger war als andere. Klar, den anderen ging’s immer besser als mir. Die anderen hatten einen besseren Job, sahen besser aus, hatten mehr Geld, coolere materielle Dinge. Ich war oft „nur“ die Krankenschwester, die zwar schon in der Ausbildung ne‘ eigene Wohnung und ein Auto hatte, aber trotzdem: Allen anderen ging’s immer und grundsätzlich besser. (Die Wohnung und das Auto bedeuten natürlich nichts, sondern dienen hier nur als Vergleich zu meiner Einstellung anderen gegenüber.)
Ich konnte nie alleine sein. Hatten andere ohne mich Spaß war ich gemein und verletzend, konnte mich nicht mitfreuen und heulte mir später die Augen aus dem Kopf. Ich wusste einfach nichts mit mir alleine anzufangen.
Ich weiß, dass es ziemlich früh, etwa in der Pubertät, eine Phase gab, in der ich am liebsten nicht mehr da gewesen wäre. Ich habe es keinem anvertraut, bis jetzt nicht.
Als die Diagnose der Multiplen Sklerose fiel, sagte meine Ärztin mir direkt, dass ich jemanden bräuchte um das ganze zu verarbeiten. Ehrlich gesagt hatte ich vorher schon öfter mit dem Gedanken gespielt mir professionelle Hilfe zu suchen. Jemand, der mich dabei unterstützt, nicht immer nur schwarz zu sehen. Wie gern wäre meine Welt mal wieder etwas in Richtung Dunkelgrau gegangen?
Ich hatte unsagbares Glück über Kontakte an eine Therapeutin zu gelangen, bei der ich nun schon seit fast zwei Jahren in Behandlung bin. Anfänglich drehte sich vieles, fast alles, um die Diagnose die nun bis an mein Lebensende, bis ich den Schirm zu mache, an meiner Seite stehen würde. Während meiner Zeit in der psychiatrischen Tagesklinik fanden unsere Sitzungen nicht statt. Zudem muss ich aber sagen, dass meine Neurologin auch eine Fachärztin für Psychologie und Psychiatrie ist und sie meine Anlaufstelle während des Zusammenbruchs war.
Ich habe lange damit gehadert das hier so öffentlich zu schreiben, aber ihr bestärkt mich einfach immer wieder darin, mein Herz mit euch zu teilen. (Ich warne hier noch einmal kurz vor.)
Meine innere Wut auf diese Krankheit und weiß Gott noch was alles plus Zukunftsängste und Panikattacken mit enormem Herzrasen, führten dazu, dass ich irgendwann am liebsten nicht mehr da gewesen wäre. Immer musste ich stark sein. Nein, stimmt nicht. Ich wollte stark sein. So sehr. Für meine Eltern, meinen Freund, meine Kollegen. Mitleid lächelte ich weg oder ich wurde wütend. Am liebsten hätte ich meinen Freund verlassen um ihm ein Leben mit mir zu ersparen. Es flossen Tränen über Tränen bis keine mehr da waren.
Der Punkt an dem ich mich ins Auto gesetzt und zu meiner Ärztin gefahren bin war, als ich ein völliges Gefühl der Gefühllosigkeit erreicht hatte und mir nichts, aber auch gar nichts hätte weh tun können. Alle war zu viel. Zu anstrengend. Duschen, essen, fernsehen. Soziale Kontakte nervten mich nur und selbst das Gassigehen löste in mir extreme Angstzustände aus. Die Welt machte mir Angst. Gott sei Dank habe ich jemanden an meiner Seite der mich schon ein paar Jahre kennt und mich liebt. Sehr. Wie ich ihn. Im Nachhinein bin ich so froh, dass es zu diesem furchtbar reflektierten Tag kam, an dem ich vor der Entscheidung stand: „Wäre die Welt wohl besser ohne mich oder kneife ich verschissen nochmal den Hintern zusammen und versuche mich hier rauszuholen?“ Ich entschied mich richtig. Ich bin hier.
Ich kam in der Praxis an und bat um Hilfe, weil ich sonst wohl in die Notaufnahme müsste bevor etwas Dummes passiert. Ich kann mich an den Moment nur noch sehr verschwommen erinnern. Ich habe ja schon einige Male erwähnt was für ein Glück ich mit meinen Ärzten habe und auch hier; meine Ärztin schrieb mich krank und schlug mir vor es mit einem Medikament zu probieren, was ich allerdings in dieser tiefen, traurigen Phase nicht nehmen dürfe, da es sonst (und das wusste ich sogar noch aus meiner Ausbildung) zu einem gesteigerten Suizidrisiko kommen könnte. Also versuchte ich es erstmal mit Dingen auf die ich die letzten Wochen keinen Wert mehr gelegt hatte und blieb zu Hause, las, guckte Netflix und versuchte meine Panik vor der Welt in den Griff zu bekommen.
Zwei, vielleicht drei Wochen später, startete ich mit meinem Antidepressivum. Nach ca. 4 Wochen merkte nicht nur ich, sondern auch die Menschen aus meinem näheren Umfeld, dass sich einiges geändert hatte. Ich hatte wieder Antrieb und vor allem: Ich konnte wieder fühlen.
Meine Neurologin machte mir, wie ich hier schon mal erwähnt hatte, den Vorschlag einer stationären Therapie gegen meine Depression. Depression? Das Wort fiel dort tatsächlich das erste mal richtig und bewusst. Mit einer stationären Therapie wäre mich wenig geholfen gewesen, also entschieden wir uns gemeinsam für einen Aufenthalt in einer Tagesklinik. Einweisungsdiagnose: Schwere depressive Episode bei Multipler Sklerose.
Für mich war lange unklar, ob das beides miteinander zusammenhängt, deshalb hier ein kurzer Auszug:
Depression bei MS
Depression ist – anders als eine vorübergehende tieftraurige Stimmung – eine ernsthafte Erkrankung. Sie wird wahrscheinlich verursacht durch eine Funktionsstörung bestimmter Botenstoffe im Gehirn (sogenannte Neurotransmitter).
Eine Depression zeigt sich nicht nur in einem gestörten Gefühlsleben. Sie beeinträchtigt auch die Leistungs- und Urteilsfähigkeit und äußert sich in körperlichen Beschwerden wie Schmerzen, Schlaflosigkeit, Verdauungsstörungen und sexuellem Desinteresse.
Bei MS-Patienten liegt das Risiko, im Laufe des Lebens an einer schweren Depression zu erkranken, bei rund 50 Prozent – das dreifache im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Nimmt man weniger schwere Depressionen hinzu, steigt das Risiko auf 70 Prozent.
Etwa 30 Prozent der Todesfälle bei MS geschehen durch Selbstmord (etwa 7,5 mal so häufig wie in der Normalbevölkerung).
Therapieziele
Verminderung des erheblichen Leidensdrucks der Betroffenen und damit der Wiederherstellung der Lebensqualität und der Lebensfreude. Verhütung eines Suizids. – http://dmsg.de
Hier noch ein Auszug von einer meiner absoluten Lieblingsseiten:
Multiple Sklerose (MS) richtet Schäden in Gehirn und Rückenmark an. Sie lässt aber auch die Psyche der Betroffenen leiden. Depressionen sind eine der häufigsten Begleiterscheinungen bei MS. Viele Patienten fühlen sich leer, wertlos, empfinden keine Freude und entwickeln Schuldgefühle, weil sie anderen vermeintlich zur Last fallen. Oft suchen Betroffene die Schuld für ihre Krankheitsschübe bei sich selbst.
Eine aktuelle Studie könnte Mut machen: Die depressiven Symptome nehmen mit dem Alter ab und die Lebensqualität verbessert sich. Dies fanden Forscher von der New York University (USA) und der Kessler Foundation heraus, die sich dafür einsetzt, das Leben von Menschen mit Behinderungen zu verbessern.
Eine von dieser Studie unabhängige Auswertung aus dem MS-Register der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) aus dem Jahr 2017 ergab folgendes Bild: In Deutschland leiden 23 Prozent der befragten MS-Patienten unter Depressionen – also rund acht Prozent mehr als im Durchschnitt der Bevölkerung.
Die Hälfte der Betroffenen nehmen dagegen Medikamenten ein, 13 Prozent erhalten keine Medikamente, aber eine Psychotherapie. Mit einer Kombination aus beidem werden 13 Prozent der depressiven MS-Patienten behandelt. Bei fast einem Viertel bleibt die Depression untherapiert. – http://trotz-ms.de
Natürlich, wie ich oben schon erwähnte, glaubte ich schon länger, dass da was nicht ganz rund läuft und ich mache meine MS nicht dafür verantwortlich. Vielleicht trägt sie einen Teil dazu bei, aber sie ist nicht Schuld. Niemand ist verdammt nochmal daran Schuld, dass du trauriger bist als andere. Neurotransmitter deines Hirns, die haben Schuld! So und nicht anders.
Ich hatte wirklich sehr großes Glück so schnell eine Therapeutin gefunden zu haben und dazu noch recht zügig einen Platz in der Tagesklinik.
Auf die Tagesklinik möchte ich hier noch einmal kurz zu sprechen kommen:
Viele meiner Mitpatienten hatten vorher schon einen stationären Aufenthalt in der Psychiatrie hinter sich. Ich eben nicht, das einzige was ich daher wusste waren Dinge aus meiner Ausbildungszeit. Unser längster, praktischer Einsatz fand tatsächlich nämlich eben auf einer geschlossenen oder offenen psychiatrischen Station statt. (Ist auch genau richtig so. Es ist nicht nur unglaublich spannend, sondern man wächst in dieser Zeit enorm an Geschichten und mit Patienten.) Also gut, am Anfang tat ich mich schwer dort anzukommen. Wie offen sollte ich sein? Was werden die anderen denken? Schaffe ich es mich hier so zu öffnen, dass man mir helfen kann?
Da die Tagesklinik ein Patenprogramm hat bei dem neuen Patienten jemand an die Seite gestellt wird, der schon länger da ist, waren meine Sorgen völlig unbegründet. Es begannen die härtesten, aber auch mit die schönsten 10 Wochen meines Lebens. Meine lebensrettenden 10 Wochen vor allem. Einzeltherapie, Achtsamkeitsgruppe, Sport, Emotionsregulationsgruppe, Ergotherapie und Akupunktur, um nur mal einige der Dinge zu nennen, die mir halfen mich wieder zu finden.
Irgendwo dazwischen begegnete mir mein heutiger, bester Freund. (Ich weise hier jetzt nicht nochmal auf meine Meinung zu heterosexuell orientierten, verschiedenen Geschlechts und trotz allem einer funktionierende Freundschaft, hin.)
Ab der dritten Woche fing ich erst, wie von den anderen prophezeit, an mich wirklich zu öffnen. Hier brauchte ich kein Lachen zu faken und konnte auch mal alles wirklich rauslassen was da so unter der Fassade vor sich hin brodelte. Aber auch hier traf ich wieder auf Menschen die meinetwegen weinten. Weil ich eine junge, unheilbar kranke, Frau bin. Wie verarbeitet man das? Schwer, ich bin sehr ehrlich. Wie reagierst du? Mein Glück war, dass in dieser Situation eine Therapeutin dabei war, die mir half aus dieser Situation zu entfliehen und vor allem der anderen, weinenden Frau zu helfen. Mittlerweile meistere ich ähnliche Situationen alleine.
Zwischenzeitlich wurde ich außerdem auf die doppelte Dosis meines jetzigen Antidepressivums eingestellt. Völlig ok!
Ich muss sagen, dass ich mich an strikte Regeln hielt, ich machte meine Hausaufgaben, sprach viel mit meinem Freund über die Therapie. Oft holte er mich ab und lernte bald einige Mitpatienten kennen. Manchmal treffen wir uns übrigens immer noch und gehen mal zusammen essen. Wir alle sind immer noch in weiterer Therapie, aber wir sitzen alle da. Wir sind da, leben.
Nach ca. 8 Wochen reichte es mir und die Dinge wiederholten sich. Ich nutzte die Zeit um mir Ruhe zu gönnen, wenn Gruppen waren, die ich bereits kannte und las oder malte.
Gemeinsam mit den Sozialarbeitern der Klinik beschloss ich meine anerkannte Behinderung beim Versorgungsamt zu beantragen und nach Entlassung eine Wiedereingliederung bei der Arbeit, mit anschließender Stundenreduzierung, in Angriff zu nehmen.
Ich reduzierte meine wöchentliche Arbeitszeit von 40 auf 32 Stunden. Ansonsten könnte ich meine Termine nicht unter einen Hut bringen und hätte nicht mal mehr ein paar Minuten am Tag für mich.
Wisst ihr was? Ich möchte hier langsam zum Ende kommen und euch noch einige Dinge mit auf den Weg geben:
- Ihr seid nicht alleine, auch wenn es oft so scheint, bitte vergesst das nicht
- psychische Erkrankungen sind verdammt nochmal genauso ernst zu nehmen wie körperliche Leiden
- Schäm dich nicht! Bitte, es gibt keinen Grund dazu
- Vertraue dich jemandem an
- Nimm denjenigen mit zu einem Arzt
- Lass dich nicht abwimmeln, DU bist wichtig
- Viele Therapeuten sind überlastet und behandeln oft nur privat, deshalb kannst du bei deiner Krankenkasse anrufen und um einen Platz bei einem niedergelassenen Psychologen/Psychiater bitten
- Auch wenn es hart ist, setze dich mit dir auseinander
- Sei achtsam
- Tu Dinge die DIR gut tun
- Schreibe Sachen auf, die dich beschäftigen, führe ein Tagebuch
- Fühl dich bitte nicht minderwertig „gesunden“ Menschen gegenüber (Trust me, jeder hat sein Päckchen)
- Wenn du weniger arbeiten möchtest oder musst, dann macht dich das nicht zum Lappen. Egal aus welchen Gründen, es sind deine und die sind richtig. Es gibt nun mal nur dieses eine Leben, nutz es.
Ich bin auch noch nicht am Ende meiner Reise zu mir selbst. Ich brauche oft noch Anstöße und Tritte in den Hintern. Auch ich habe meine persönlichen Trigger die mich in ein Loch zureißen scheinen. Das ist völlig normal und ich habe eine Menge Möglichkeiten für mich entdeckt, die mir helfen mich nicht ganz so tief fallen zu lassen. Ohne fremde Hilfe hätte ich das niemals geschafft und ich bin sehr dankbar für jeden einzelnen der in dieser Zeit an meiner Seite war. Und: ich bin stolz auf mich. I did it.
Wut habe ich schon sehr lange nicht mehr verspürt. Zumindest keine unbegründete. Das ist mein aller, aller größtes Ziel was ich erreicht habe. Was soll deins sein?

Kira